Corona: die Politisierung meines Familienchats
In unserem Familien-Whatsapp-Chat sind 32 Mitglieder. Üblicherweise wird dieser XL-Chat nur selten genutzt. Wenn, dann zum Beispiel um Glückwünsche auszurichten oder Urlaubsbilder zu teilen. Nun, während der Corona-Pandemie, wird täglich kommuniziert, und die Gespräche politisieren sich. Das bringt Spannung in den Chat. Radikale Höflichkeit hilft auch hier weiter.
Ich bin immer erleichtert und belustigt, wenn Freund*innen berichten, dass auch ihre Familien in Whatsapp-Gruppen aneinander vorbeireden oder ebenso seltsame Reaktionen per Emoji äußern. Eine Familienchat-Gruppe, der ich angehöre, umfasst 32 Mitglieder – beziehungsweise 31, da nun eine Person den Chat nach einer emotionalen Stellungnahme verlassen hat. Die Mitglieder der Gruppe leben in unterschiedlichen Ländern Europas und arbeiten in unterschiedlichen Berufsfeldern. Natürlich haben sie ebenso unterschiedliche politische Einstellungen.
Meistens gibt es ein bis zwei zustimmende Emojis, dann wieder Urlaubsbilder.
Schon vor der Corona-Pandemie wurden ab und zu politische Inhalte in diesem Chat geteilt. Manchmal waren es Kettenbriefe, manchmal Aufrufe, Petitionen zu unterschreiben. Meistens gab es daraufhin einige zustimmende Emoji-Reaktionen, dann wieder Urlaubsbilder. Nun hat sich das verändert.
Vergangene Woche störten mich die vielen “Witzbilder” und “Witz-Videos” zu Corona, welche zum Teil scheinbar kopflos geteilt wurden. Einige von ihnen kamen mir rassistisch oder antifeministisch vor. Ein Bild zeigte zum Beispiel vier Personen, die jeweiligen Nationalitäten standen darunter. Japan, Korea und die USA – jeweils durch junge Frauen dargestellt – trugen einen Mundschutz. Der vierte jedoch, der “zahnlose Russe”, prostete uns scheinbar endlos besoffen mit einem Schnapsglas zu. Das Bild wollte sagen: Alle schützen sich und ihr Umfeld sinnvoll vor Corona, nur die Russen saufen, um sich so zu desinfizieren. Wie primitiv die doch sind.
Ich ärgerte mich über das klischeehaft abwertende Bild “des Russen”. Ähnlich abwertende Bilder rassistischer Art gibt es zu asiatisch gelesenen Menschen derzeit im Netz. Ein anderes “Witzbild” aus unserem Familien-Chat zeigt unter der Überschrift “Day 7 of Quarantine” eine Frau, die sich kopfüber am Waschbecken die Haare wäscht. Blind vor Haaren fragt sie ihren Mann, ob er ihr den Föhn reichen könne. Der Mann steht neben ihr in der Tür und reicht ihr erwartungsvoll einen Revolver. Das Bild sagt also, dass die Frau ihren Ehemann nach einer Woche unfreiwilligen Beisammensein so sehr stört, dass er sie tot sehen möchte.
Mich nervt, dass Humor einen Freifahrtschein besitzt.
Geschmäcker sind verschieden, schon klar. Und Humor ist sowieso etwas sehr persönliches. Mich nervt jedoch, dass Humor offenbar einen Freifahrtschein besitzt und damit alles überrollen darf, was an Gefühlen so im Raum schwebt. Aus meiner Arbeit bei Kleiner Fünf weiß ich, dass Humor gerne dafür genutzt wird, um unsensiblen Haltungen Raum zu geben – stets unter dem Label “War doch nur ein Witz”. Sobald eine Person versucht, deutlich zu machen, dass der Witz nicht für alle witzig war, bekommt sie die “Spielverderber”-Rolle zugeschrieben. Nicht selten folgt der Vorwurf, die “Sprachpolizei” zu sein – mehr noch: die Witzpolizei. Dieser Vorwurf ist jedoch eine weitere Herabwürdigung der Gefühlswelt und Wahrnehmung anderer. Er ist ein Versuch, sich selbst zu retten und dem Gegenüber die Schuld für das Debakel zu geben.
Wir von Kleiner Fünf haben die Strategie der Radikalen Höflichkeit entwickelt, um politisch hitzige Diskussionen auch im Familienkreis mit kühlem Kopf zu meistern. Freundlich, sachlich und zugewandt soll so die Situation entschärft werden, ohne dass Verwandte blöd dastehen.
Ich habe es mit radikaler Höflichkeit versucht und das hat mir geholfen.
Zunächst schrieb ich einer engen Verwandten, die ebenfalls in dem Chat ist, ob sie meine Einschätzung der Lage nachvollziehen könne. Dann entwarf ich einen persönlichen Text an den Absender des “Witzbildes” und sprach zunächst mit meiner Vertrauten darüber. Sie bestätigte mich darin, ihn abzusenden. (--> Eine kurze Absprache mit einer anderen Person hilft also, um nicht vorschnell und impulsiv zu handeln, sondern zumindest die Einschätzung einer anderen Person dazu zu hören).
In meiner privaten Nachricht an den Witz-Absender erklärte ich, was mir an dem Bild Bauchschmerzen bereitet. Ich warf der Person nicht vor, rassistisch zu sein. Ich wies lediglich darauf hin, dass ich aus dem Bild eine Stereotypisierung las, welche einige meiner Freund*innen – vor allem jene, die eine Migrationsgeschichte haben – verletzen würde. Ich fragte, ob er meine Sichtweise nachvollziehen könne und wie seine Einschätzung dazu sei. (--> Sich ruhig und anschaulich erklären und Fragen stellen, statt anzuprangern). Siehe da: Er antwortete mir noch am selben Tag und zeigte Verständnis für meine Sicht der Dinge. Wir einigten uns darauf, dass Bilder wie diese Ressentiments verstärken und ebenso darauf, dass Humor schwierig zu bewerten sei.
Diese klärende Unterhaltung lief allerdings privat ab, nicht vor „Publikum“ im 32-Personen-Chat. Hier fand etwas ganz anderes statt: einige Mitglieder der Gruppe, die in der Landwirtschaft tätig sind, teilten ihre Sorgen und politischen Forderungen bezüglich der Düngemittelverordnung und der ausbleibenden Möglichkeit von Protesten in Zeiten der Ausgangsbeschränkungen. Genau wie wenn ich selbst politische Inhalte teile, fielen die Reaktionen spärlich aus. Einige zustimmende Emojis, dann wieder Witzbilder zur Corona-Toilettenpapier-Situation. Eine sonst sich im Chat sehr zurückhaltende Person (ebenfalls in der Landwirtschaft tätig) schrieb nun einen langen, emotionalen Text, indem sie sich echauffierte, dass niemand ernsthaft reagieren würde. Sie verließ die Gruppe direkt nach ihrer Nachricht. Das war schade, denn so konnte sie meine Antwort nicht lesen. In dieser teilte ich ihr mit, dass ich sie sehr wohl ernst nehme und ihre Anliegen sogar bereits an Ministerien unseres Landes weitergetragen habe. Also schrieb ich auch dieser Person erneut in einer Privatnachricht. Sie antwortete mir prompt freundlich und dankend.
Nun versichern wir uns: die Perspektivenvielfalt ist gut!
Im Familien-Chat wurde sich währenddessen gegenseitig zugesichert, dass man sich für die Situationen der anderen interessiere, und dass es sehr hilfreich sei, von den unterschiedlichen Lebensrealitäten zu hören, um Perspektivenvielfalt zu erlangen.
Was fällt mir nebenbei auf? Dass sich in unserer Chatgruppe nur Frauen an den Schlichtigungsversuchen beteiligen. Dass die meisten „Witzbilder“ bisher von Männern kamen. Was habe ich gelernt? Radikale Höflichkeit hilft auch in Corona-Zeiten und in Whatsapp-Gruppen. Allerdings ist das persönliche und auch private Gespräch auf Augenhöhe das Sinnvollste für jede Schlichtung von Anspannungen.
Ich wünsche allen Teilnehmenden solcher politisierten Gespräche, dass sie mit radikaler Höflichkeit genauso gute Erfahrungen machen.
PS: Ich schätze diesen Familien-Chat sehr. Ich fühle mich bereichert durch den Austausch mit all diesen, an anderen Orten lebenden und wirkenden Menschen. Es freut mich, dass wir, wenn auch manchmal holprig, politische Anliegen miteinander teilen. Wir haben ein Recht auf freie Meinungsäußerung, jedoch nicht auf zustimmende Reaktionen. Wir können Witzbilder teilen, müssen jedoch damit klarkommen, wenn nicht alle sie witzig finden. Sich ab und an über die Familie zu ärgern ist wohl normal. Hilfreicher ist es jedoch, freundlich und direkt anzusprechen, was genau stört.